Rezensionen
– Peter Haida (Nestroyana 19/1–2)
Daß ein Sprachkünstler wie Nestroy mit seinen Texten in der Schule wenig präsent ist, das ist schon häufig beklagt worden. Mehr Nestroy im Unterricht wäre durchaus wünschenswert. Nun fragt der geplagte Schulmann mit einer gewissen Empörung in der Stimme: „Was denn nicht noch alles? Wir haben eh’ schon soviel Stoff abzuarbeiten!” Das ist natürlich wahr. Wahr ist aber auch, daß sich die curricularen Festlegungen in der Regel nicht auf Inhalte beziehen, sondern die Inhalte, mit denen bestimmte Unterrichtsergebnisse erreicht werden sollen, von den Unterrichtenden selbst oder unter Beteiligung von Schülerinnen und Schülern ausgewählt werden. Warum also nicht, wie schon W. Schmidt-Dengler vor Jahren gefordert hat (Nestroyana 3 [1981], H. 4, S. 110), einige Ziele des Sprach- und Literaturunterrichts mit Hilfe von Nestroy erledigen? Dagegen könnte es eigentlich keine Einwände geben, außer den, daß Nestroy bisher nicht zum Literaturkanon gehört und deswegen als ungewohnt und arbeitsaufwendig erscheint. Es käme also darauf an, den Nachweis zu führen, daß bei Nestroy ein Material bereitliegt, mit dessen Hilfe Unterrichtsziele besonders gut und leicht erreichbar sind. Bisher ist das noch nicht gelungen, wie z. B. die Absetzung von drei Nestroy-Stücken (Der Talisman, Freiheit in Krähwinkel, Die beiden Nachtwandler) zeigt, die in verschiedenen Reihen des Klett Verlags, Stuttgart, bereits vorgelegen haben.
Jedoch sind Ansätze zur Abhilfe in Sicht. Nachdem bereits das oben erwähnte Heft der Nestroyana von 1981 sich mit dem Thema Nestroy in der Schule befaßt hat, stellt der hier anzuzeigende erste Band der neuen Reihe QUODLIBET weitere Anregungen und Materialien bereit. Sein Titel: Die Welt ist die wahre Schule … ist ein leicht verändertes Zitat aus Nestroys Einakter Die schlimmen Buben in der Schule; die Texte gehen auf eine Veranstaltung für Lehrer im Herbst 1998 in St. Pölten zurück. Sie sollen beweisen, daß sich Nestroy gut für die Schule eignet, und dazu Vorschläge machen. Der Reihentitel Quodlibet, der auf jenes im Theater jener Zeit beliebte, halb willkürliche szenisch-musikalische Gemisch verweist, hat in diesem besonderen Fall nicht ganz recht. Zwar handelt es sich um verschiedene Stimmen, Tonarten und Themen, die hier versammelt sind, doch hat die Zusammenstellung ein sehr klares Ziel: den „Brückenschlag zwischen Nestroy-Forschung und Literaturdidaktik, um Johann Nestroy auch in der Schule lebendig zu erhalten” (Vorwort der Herausgeberin).
Eröffnet wird der kleine Band mit einem grundsätzlichen Beitrag von Jürgen Hein über ,Aspekte und Ergebnisse der Nestroy-Forschung nach 1945’, der eine Übersicht über die verschiedenen Ansatzmöglichkeiten der Beschäftigung mit dem Autor bringt, den Wandel der Interpretationsaspekte aufzeigt und ihn dann an einem Beispiel, dem Talisman, konkret dokumentiert. Durch die 1977 begonnene Historisch-kritische Ausgabe (HKA) hat sich die Textlage gegenüber der Ausgabe von Rommel/Brukner (SW) entscheidend verbessert. Sie soll im Jahr 2001 fertiggestellt sein, was angesichts der bisher erschienenen 38 Bände realisierbar erscheint.
Der zweite Aufsatz, ebenfalls von Hein, thematisiert zunächst die Kanonfrage und bespricht einige bereits vorhandene Handreichungen und Materialien, die es zu dem schulisch (noch) nicht kanonisierten Autor gibt. Anschließend wird ein Raster von Themenkomplexen und Bearbeitungsaspekten entworfen, die für den Literaturunterricht in Frage kommen, mit Hinweis auf die jeweils sich dafür eignenden Stücke. Einige der Aspekte sind literatur- und theatergeschichtlich sehr speziell (z. B. die Problematik von Posse, Volksstück, Operette) und dürften Schüler/innen weniger interessieren, dagegen werden allgemeinmenschliche Themen und soziale Ansätze, kombiniert mit handlungs- und produktionsorientierten Vorgehensweisen, vermutlich mehr Anklang finden. Möglichkeiten dazu wie auch zur Aktualisierung eines Stücks werden ausführlich am Beispiel von Die beiden Nachtwandler aufgezeigt.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich unter verschiedenen Blickpunkten mit der Posse Der Zerrissene. Von Nestroy als Sprachkünstler handelt ein Aufsatz von Sigurd Paul Scheichl. Er untersucht das im Vormärz häufige Motiv der Zerrissenheit und seinen Gebrauch bei verschiedenen Schriftstellern. Nestroy faßt es kritisch und parodistisch auf und läßt durch die Figur des Herrn von Lips den Schauspieler Nestroy als kritischen Räsoneur sich über das Zeitphänomen äußern. Die Satire artikuliert sich vor allem durch die Sprache: als „Mittel der Kritik verlogener Rede” werden vor allem Stilbruch und Stilparodie eingesetzt. Ebenfalls den Zerrissenen empfiehlt Ulrike Tanzer als Material für einen fächerübergreifenden Unterricht, wobei für den Fremdsprachenunterricht die französische Vorlage verglichen werden kann, für das Fach Musik die Liedeinlagen. In Geschichte könnten politische und gesellschaftliche Voraussetzungen bereitgestellt werden; Komik und komische Figur könnten im Zusammenhang mit anderen Komödien von Shakespeare, Molière oder der Commedia dell’arte verfolgt werden.
Die lange Zeit führende Ausgabe von Rommel/Brukner hatte, wie Scheichl in einem Beitrag zur Editionsgeschichte bemängelt, die Sprachebene Nestroys einem wienerischen Hochdeutsch angenähert und damit vereinheitlicht, was Stiluntersuchungen fast ausschloß. Demgegenüber gibt die HKA dialektale Schattierungen genau wieder und eröffnet damit die Möglichkeit zu zeigen, wie Nestroy mit verschiedenen Sprachebenen spielt und sowohl Hochsprache als auch Dialekt zur Personencharakterisierung und zur Kritik einsetzt. Belege dafür sammelt Scheichl bei einem Stilvergleich des Zerrissenen mit der französischen Vorlage L’homme blasé von Duvert und Lauzanne.
Das Buch bietet noch weitere nützliche Materialien: zur sofortigen Überprüfung einiger Thesen die dritte Szene des ersten Akts des Zerrissenen nach der HKA; ferner Nestroys berühmt-berüchtigten anonymen Werbebrief an Karoline Köfer für biographische Untersuchungen; schließlich eine Vorstellung der Internationalen Nestroy-Gesellschaft durch ihren Vizepräsidenten Jürgen Hein. Es fehlt auch nicht ein Hinweis auf die Internetseite über Nestroy (http://www.nestroy.at), die sehr viele Materialien über den Autor, die Stücke (einschließlich Texten), Aufführungen und wissenschaftliche Bemühungen um Nestroy bietet und selbstverständlich ständig ausgebaut wird. Eine von J. Hein erstellte achtseitige Bibliographie ergänzt den Forschungsbericht vom Anfang des Bandes. Insgesamt ein kompaktes und für den Unterricht sicher sehr nützliches Werk, das viele Anregungen bietet.
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