nestroy-schoeller


banner

    Home Links Über uns Kontakt  Impressum

Verlagsprogramm



 
                

Johann Nestroy

Reserve und andere Notizen

Herausgegeben von W. Edgar Yates

Unter den Handschriften, die Nestroy spätestens ab Mitte der 1840er Jahre bei der Planung seiner Stücke heranzog, waren Listen numerierter Notizen, systematisch angelegte Sammlungen von witzigen Gedanken und Formulierungen, die er aufbewahrte, um sie bei Gelegenheit in einen Monolog oder eine passende Dialogstelle einzufügen. Die umfangreichste Liste derartiger Notizen, die Reserve, gehörte bis November 1934 zur Sammlung Trau und galt dann für mehr als sechs Jahrzehnte als verschollen, bis sie 1996 im Deutschen Theatermuseum München wiederentdeckt wurde.
Die Reserve ist mit ihren 35 Manuskriptseiten und 254 numerierten Notizen
zwar nicht die einzige, aber die umfangreichste und wichtigste Handschrift dieser Art und gewährt einen  besonders guten Einblick in die Werkstatt des Dramatikers. In der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sind ein doppelseitig beschriebenes Einzelblatt mit sechzig numerierten Eintragungen und eine kürzere Liste mit der Überschrift R. P. J. Ideen erhalten. Auch diese beiden Handschriften sind im vorliegenden Band wiedergegeben.
Zu den in diese
n Handschriften überlieferten Aufzeichnungen gehören einige der bekanntesten und am häufigsten zitierten ‚Aussagen’ Nestroys, z. B.:
Das Vergnügen an Schönheit gewinnt durch Unwissenheit in der Anatomie derselben.
Während die Wirklichkeit heult wie Sturm, schlummert das stille Ideal in den flüsternden Kammern der Phantasie.
Es giebt Leute deren Herzen gerade in dem Grad ein
schrumpfen, als ihre Geldbörsen sich erweitern.
Antiquar ( Todtengräbergeschäft der Litteratur.)
Die Liebe ist ein Traum, die Ehe ein Geschäft.
Nichts ist das Wahre weil gar nichts wahr is. Nihilismus.

Die vorliegende Ausgabe bietet einen Paralleldruck ( Faksimile-Druck und vollständige Transkription) mit einer Einführung, aber ohne einen ausführlichen wissenschaftlichen Anmerkungsteil: also einen Text zum Lesen und zum Anschauen.
Die Reserve und die anderen Listen von Notizen sind für unser Verständnis von Nestroys Arbeitsweise von großer Bedeutung, und zwar nicht nur deswegen, weil sie wertvolle Zeugnisse bei der wissenschaftlichen Suche nach seinen Quellen und Vorlagen sind.
Nestroys Sprache ist durch ihre ‚aphoristisch’ wirkenden Pointen gekennzeichnet; sein Sprachwitz wurde schon zu seinen Lebzeiten gefeiert.
Karl Kraus hat Johann Nestroy als den „geistvollsten deutschen Schriftsteller neben Lichtenberg” bezeichnet.
Der Witz ist aber nicht – oder nicht nur – das Erzeugnis ‚genialer Schreibelustigkeit’, sondern sorgfältig konstruiert, und in der Reserve besitzen wir einen Schlüssel zum Konstruktionsprozeß.

 

 

Quodlibet 2

112 Seiten
13 x 21 cm
42 SW-Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN 3-901749-19-5

Euro 14,40 / sfr 25,-

line

 

Rezensionen

– Hubert Lengauer (Nestroyana 24/1–2)

Undank ist der Welt Lohn. „Gelehrte Köpfe wohnen meist auf schlechten Unterleibern” (111). (Zitate aus dem Buch mit Seitenangabe in Klammern.) Hat Nestroy diese etwas pauschale Unterstellung (wohl ohne es zu ahnen) auch seinen Editoren ins Stammbuch geschrieben? Was wäre aber die Nestroy-Forschung ohne ihre gelehrten Köpfe? Arbeiten sie doch gegen den Würmerfraß, den der Poet nicht nur für seinen Leib, sondern auch für seine Schriften fürchtet: „Nicht nur der Körper wird von Würmern gefressen, auch der Geist – denn auch die Bibliotheken werden von Würmern aufgezehrt, manch Unsterblichkeit verdienender Gedanke ist schon das Diner einer Mottenfamilie geworden” (103). Das schwere, glatte Papier des vorliegenden Büchleins, auf dem die Faksimiles der Handschrift zwar nicht immer ganz lesbar, aber doch gut herauskommen, würde das wohl in Zukunft verhindern, hätte nicht die Wiener Stadt- und Landesbibliothek unter Walter Obermaier längst ihre konservierenden bibliothekarischen Maßnahmen gesetzt, hätte nicht Birgit Pargner die sogenannte Reserve, eine 36 Seiten umfassende Sammlung numerierter Einfälle und Kollektaneen in Nestroys eigener Handschrift 1996 im Deutschen Theatermuseum München wiederentdeckt und ans Licht gebracht. Wie die der anderen kleineren Sammlungen (die alle in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek liegen) ist die Reserve hier faksimiliert und transkribiert und durch eine sehr kenntnisreiche und genaue Einführung des Herausgebers in ihrer Stellung im Werk Nestroys beschrieben. Der Dichter hätte also allen Grund zur Dankbarkeit. Die Philologen, anderseits, sind den Spott der Poeten gewöhnt, nehmen ihn still auf sich oder schreiben ihn der Potenzangst der Genies zu. Die Verachtung des Philologischen bei den Dichtern verdanken wir vielleicht der Nach-Lessingschen Genieepoche. Es erscheint paradox, daß Nestroy, der sich – wie zitiert – hier spöttisch anschließt, mit der Reserve und den anderen Sammlungen zugleich einen Beleg für den philologisch-handwerklichen Aspekt seines Schaffens liefert, gehörten doch die Kollektaneen zur Grundausstattung eines jeden zünftigen Dichters – zumindest bis in die Aufklärungszeit, die sich nicht bloß auf die eigenen Einfälle verlassen wollte. So auch Nestroy, wie es treffend in einer Arbeit Friedrich Wallas hervorgehoben wird (13). Beileibe nicht alles ist original genialisch, was ihm einfällt, manches ist von Dickens, andres von Paul de Kock (so etwa jene illusionäre Erwartung, mit der man den Beginn der New Economy eigentlich rückdatieren müßte: „Die Weiber sind doch etwas prächtiges, wenn je etwas besseres erfunden wird, so nehme ich Actien drauf” [103]). Friedrich Walla, Yates und andere haben schon Pionierleistungen in der Entdeckung der Quellen und der späteren Einbettung dieser Notizen vollbracht, manches ist gewiß noch unentdeckt und harrt der philologischen Spitzfindigkeit und Leseerfahrung. Das vorliegende Bändchen ist ein Zwischenergebnis in dieser Arbeit, und Bescheidenheit ziert auch die Einschätzung, mit welcher der Herausgeber die Aufgabe der Publikation umreißt:

Die vorliegende Ausgabe will grundsätzlich nur einen Paralleldruck (Faksimiledruck mit einer vollständigen Transkription) ohne einen ausführlichen wissenschaftlichen Anmerkungsteil bieten: also einen Text zum Lesen und zum Anschauen. Sie will den geplanten Nachtragsband der historisch-kritischen Ausgabe nicht ersetzen. (21)


Die Neuauflage des kleinen Bändchens berücksichtigt sowohl die neuen Bände der HKA wie die (oft im Editionsprozeß entstehende) neue Sekundärliteratur (bis 2001). (Martin Stern hat die erste Auflage mit einer sehr gehaltvollen Rezension in Nestroyana 21 (2001), S. 172-174 gewürdigt.) Es sind vor allem die neueren Arbeiten von Friedrich Walla und Birgit Pargner einbezogen worden, außerdem sind kleinere Korrekturen an der Abbildung und an der Transkription der Reserve vorgenommen worden, Details wurden ergänzt. Reserve und andere Notizen begleitet also in gewisser Weise die HKA bis zu ihrer Fertigstellung. Sie ist ein Brevier, das die Arbeitsweise Nestroys, aber auch die Arbeitsweise der Editoren in nuce und in wunderbarer Weise demonstriert. Das Büchlein ist aber auch ein Brevier, in das man gern hineinliest, weil man immer wieder Formulierungen in ihrer treffenden, oft auch schillernden Qualität entdeckt. Das „Todtengräbergeschäft der Litteratur” (75), das der Philologe und Antiquar, nach einer anderen Zuschreibung Nestroy ausüben, ist gerade hier nicht schiere Nekrophilie, sondern immer auch Dienst an den Lebenden: am gegenwärtigen Leser und an den Theatern, den vor allem im Fall Nestroys wertvolle Quellen aufgetan werden. Die Lektüre sollte sich nicht bloß an die im Klappentext genannten „häufigst zitierten ‚Aussagen’” Nestroys halten, es gibt anderes Erstaunliches und Überraschungen. Etwa die (eigentlich blasphemische) Ungeheuerlichkeit, die für einen Selbstmord-Monolog in Der Schützling vorgesehen war: „Mir war der verlorne Sohn immer verächtlich, aber nicht deßwegen, weil er ein Schweinhirt war, sondern weil er wieder nach Haus gekommen ist” (57). Oder jene Ironie, die aus der Kopulation des Pathetischen mit dem Pragmatischen entsteht: „Die Flam[m]en des Herzens schlugen so gewaltig über den Kopf zusammen, daß die Löschanstalten der Vernunft zu Schanden wurden” (77). In andern ist der Kontrast weniger scharf, sodaß sie nahe ans bloß Outrierte kommen: „Die Pfeiler der Verhältnisse, erschüttert vom Erdbeben des Herzens brechen, und das Gebäude der Existenz stürzt in Trümmer” (79). Von Lichtenbergscher Lakonik hingegen dieses: „Oft und schwergeprüfte Beinkleider” (79); in einem andern Spruch mutiert das Herr-Knecht-Verhältnis zur kannibalischen Jause (oder Kommunion?): „Sie geben mir Brod, deßwegen haben sie noch kein Recht mein Fleisch und Blut zu begehren” (83). Oder (noch einmal Old Economy versus New Economy?): „Wir haben das Unsrige auf rühmlichere Weise verloren als Sie das Ihrige gewonnen” (83). Freilich: es sind nicht alle Nestroy-Sager in diesem Buch, und es sind auch nicht alle lustig, sondern viele sind von der galligen Sorte. Es ist also kein Brevier für Politiker und andere Sonntagsredner, die auch einmal witzig und gebildet zugleich sein wollen. Es ist, was es ist: ein gelehrtes Buch, das den „Unterleib” (wenn wir diesen Teil einmal figürlich und behelfsmäßig für das sinnliche Vergnügen überhaupt einsetzen wollen) nicht verachtet, oder anders gesagt: Man kann daran hin- und herlesen als philologischer Kopf oder mit heiteren Sinnen und man wird immer ein Vergnügen daran haben.


  line

Seitenanfang