Rezensionen
Hugo Aust (Nestroyana 22/1–2)
„Nestroy in München” – das heißt nicht weniger als dreierlei: Im engeren Verständnis ist damit Nestroys Gastspiel gemeint, das er zwischen dem 2. und 10. September 1845 in München gab. Zu diesem Zeitpunkt war er den Münchnern bereits als Verfasser beliebter Possen wohlbekannt: Ab 1834 wurden Stücke wie Der böse Geist Lumpacivagabundus, Zu ebener Erde und erster Stock (1836) oder Eulenspiegel (1836) u. a. mit wachsendem Erfolg auf den Münchener Volks- und Hofbühnen gespielt. Und so bedeutet „Nestroy in München” über das einwöchige Gastspiel hinaus die Geschichte der Nestroy-Inszenierungen von ihrem Beginn bis zur Gegenwart. Nestroy ist aber noch in einem dritten Sinn in München präsent; das gilt von dem hier im Deutschen Theatermuseum gesammelten Material. Dazu gehören Regiebücher zeitgenössischer Aufführungen, eine Fülle von Bühnen- und Schauspielerphotos sowie insbesondere die sogenannte Reserve, eine von Nestroy verfaßte Ideensammlung, aphoristisch pointierte Redesegmente für Figuren in geplanten Werken; es handelt sich um ein originalhandschriftliches Konvolut aus der ,Sammlung Trau’, vor wenigen Jahren erst von Birgit Pargner wiederentdeckt und nunmehr von W. E. Yates, neu transkribiert, in der Reihe Quodlibet herausgegeben (2000). So erweist sich Nestroy in München als bedeutende, solide recherchierte, ertragreiche, kundig verfaßte und sorgfältig redigierte Monographie über ein ,punktuelles’ Thema, dessen Energie so groß ist, daß sich daraus ein beeindruckend weiter Horizont der Münchner Theatergeschichte und außerösterreichischen Nestroy-Wirkung entwickelt. Der Band kennzeichnet sich selbst als „Ausstellungskatalog”, der die Ausstellung im Deutschen Theatermuseum begleitet; er löst die Erwartung ein, die von einem Ausstellungskatalog als Schnittstelle zwischen Archiv, Forschung und kultureller Öffentlichkeitsarbeit erwartet wird, besitzt zugleich aber das Gewicht einer profunden wissenschaftlichen Studie. Die 250 Seiten Text stammen – für einen ,bloßen’ Katalog eher ungewöhnlich – von zwei Personen: W. Edgar Yates und Birgit Pargner.
Auf den 90 Seiten des ersten Teils entfaltet W. E. Yates Nestroys „Leben, Werk und Zeit”. Der Bericht ist chronologisch angelegt, verfährt aber nicht rein annalistisch, sondern gliedert den gewaltigen Stoff nach elf übergeordneten Gesichtspunkten (z. B. Wien um 1830, Schöpferische Bearbeitung, Die Presse, Gastspiele, Nestroy als Theaterdichter, Nestroy und die Nachwelt), die der biographischen Linie eine politik-, sozial-, theater- und mediengeschichtliche Tiefendimension verleihen. Mit sicherer Hand wird auf begrenztem Raum zusammengefaßt und aufgearbeitet, was nach wie vor die große Nestroy-Biographie der ,rosenfarbigen’ Zukunft leisten soll; beeindruckend ist die quellengestützte Argumentation, die den beschriebenen Phänomenen keine konstruierte Bedeutung überstülpt, sondern ihnen durch umsichtige Quellenanalyse die Strukturen abgewinnt.
Nahezu ein Buch für sich ist Birgit Pargners Bilanzierung von „Nestroy in München”. In mühevoller Kleinarbeit und dennoch unter Wahrung eines Übersicht gewährenden Standpunkts wird hier die Geschichte der Nestroy-Aufführungen an den unterschiedlichen Theatern Münchens akribisch rekonstruiert. Gebäude- und unternehmensgeschichtliche sowie das jeweilige Repertoire und Ensemble betreffende Hinweise dienen dazu, die einzelnen Nestroy-Inszenierungen zu situieren. Das rezeptionsgeschichtlich Bemerkenswerte ist, daß Nestroy in München (im Gegensatz zu Wien) schon bald auf der Kgl. Hofbühne gespielt wurde und daß er dort auch sein Gastspiel gab. Die erste Nestroy-Posse, Der böse Geist Lumpacivagabundus, wurde am 16. Mai 1834 im Schweigerschen Volkstheater in der Vorstadt Au gegeben; schon am 12. des Folgemonats war sie im Hof- und Nationaltheater zu sehen, und zwar mit Wenzel Scholz als Gast. Der Spezialist für die Nestroy-Rollen war in München Ferdinand Lang; ihm gilt ein eigenes Kapitel. Etwas knapp fällt im Vergleich der Abschnitt über „Nestroys Gastspiele in München” aus. Das ist aber keineswegs der Verfasserin anzulasten; vielmehr liegt das an der spärlichen Überlieferung. Gewiß, es gibt die Theaterzettel jener fünf Aufführungen, in denen Nestroy als Gast auftrat (Der Talisman, Eulenspiegel, Unverhofft, Das Mädl aus der Vorstadt und Sieben Mädchen in Uniform), und es gibt die Aufführungskritiken der Tagespresse. Das ist aber schon alles. Kein Bild, keine zuverlässige Anekdote über den Alltag des Gastes in München, kein Erlebnisbericht irgendeines passionierten Theaterbesuchers, dessen Aufzeichnungen sich erhalten hätten; selbst vom Grafen Pocci, der Nestroy „außerordentlich schätzte” (Valenta, Reinhard, Franz von Poccis Münchener Kulturrebellion, München 1991, S. 164.) und ihn als Knieriem (1833) gezeichnet hatte (vgl. Abb. Nr. 5, S. 15), scheint keine Äußerung über Nestroy überliefert zu sein. Theaterzettel und Aufführungskritiken wurden zudem schon an anderer Stelle veröffentlicht (Adey Huish, Louise, ,Zur Geschichte von Nestroys Gastspielen: München berichtet über den langersehnten Gast’, Nestroyana 12 (1992), S. 102–115.), so daß Birgit Pargner jetzt darüber nur zusammenfassend berichtet und Auszüge bietet. Da der vorliegende Band aber für längere Zeit die Grundlage für das Interesse an Nestroy in München bleiben wird, wäre es tunlich gewesen, diese Kritiken, die einen besonderen Quellenwert haben, zur Gänze wiederzugeben. Pargners Darstellung wendet sich sodann der „Konkurrenz der Bretterbuden” im München des 19. und 20. Jahrhunderts zu, insbesondere den Schweigerschen Volkstheatern, deren wichtige Nestroy-Aufführungen infolge der lückenhaften Überlieferung kaum vollständig erfaßt werden konnten, sodann dem Actien-Volkstheater am Gärtnerplatz (die Lage der Theater ist in einem historischen Stadtplan auf der vorderen Innenklappe des Katalogs eingetragen), den Volkstheatern Eduard Binders und später Eduard Loibners im Sonnenhof, dessen Initiative mit besonderer Aufmerksamkeit und spürbarem Beifall vorgestellt wird; daneben rücken das Münchner Volkstheater, die Kammerspiele, das Bayerische Staatsschauspiel, das neue Münchner Volkstheater und schließlich die Komödie im Bayerischen Hof ins Blickfeld, die mit ihrer Talisman-Aufführung den 200. Geburtstag Nestroys feiert.
Die Fülle der Daten, Namen und Fakten zwingt naturgemäß zu einer dichten Reihung; Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Übersichtlichkeit heißen hier die Kardinaltugenden, die mit Ausdauer eingehalten werden. Nun pochen bei solchen ,Zeitreisen’ wiederholt weltgeschichtliche Ereignisse an die hellhörigen Kulissen der niederen Possenwelt. Vielleicht hätten diese ,farbigen Einmischungen’– für München ja nichts Entlegenes – noch deutlicher konturiert werden können; doch ist es immer leicht, alles zu verlangen.
Nach einem Werk-, Aufführungs- und Quellenverzeichnis (ein Register fehlt leider, wenn auch verständlicherweise) folgt schließlich die Ausstellungsdokumentation. Sie umfaßt 282 Exponate, gruppiert nach einzelnen Themenbereichen. Quantitativ dominiert die Präsentation der Inszenierungsphotos. Verwunderlich ist der Verzicht auf die Nennung weiterer Überlieferungsträger; es gibt doch Bild- und Tonträger, die z. B. Karl Parylas Spiel dokumentieren und wohl in gegenwärtigen Zusammenhang passen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die exponierten Autographen (21 Stücke). Hier finden sich nicht nur ein eigenhändiger Brief Nestroys und die bereits erwähnte Reserve, sondern eine Reihe handschriftlicher Regie-, Inspektions- und Soufflierbücher, die in der Nestroy-Forschung noch gar nicht zur Kenntnis genommen wurden. Schade nur, daß der ,Katalog’ bloß drei Reproduktionen solcher Quellenwerke bietet, und das auch noch in Kleinstformat.
Nestroy in München, doch wohl mehr Studie mit vielen Bildbeigaben als eigentlicher Ausstellungskatalog, enthält eine Fülle interessanter, bis jetzt kaum bekannter Bilder; dazu gehören, um nur drei Beispiele zu nennen, die Nr. 5 (Nestroy als Knieriem, in Poccis Zeichnung), Nr. 35 (Schweigersches Volkstheater in der Vorstadt Au) und Nr. 265 (Kolorierter Kostümentwurf von Kurt Hallegger zur Rolle des Schmafu). Weniger überzeugend finde ich die Wahl des Titelbildes (Nestroy als Knieriem, nach der Photographie von Hermann Klee, um 1861), das mit dem Thema wenig zu tun hat; wenn schon, böte sich eher der Theaterzettel des Lumpacivagabundus (siehe hintere Außenklappe des Katalogs) oder des Talisman (S. 123) als erste Dokumente für die Präsenz Nestroys in München an.
Insgesamt liegt eine Publikation des in Sachen Nestroy rühmlich engagierten Verlagsbüros Mag. Johann Lehner vor, die man als Liebhaber von Nestroys Theater ebensogern besitzt wie als Arbeiter im ,Weinberg’ der Nestroy-Philologie benutzt. Sie rege als schönes Vorbild nicht zuletzt für weitere Folgen, „Nestroy in Prag” oder „in Berlin”, an.
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